Elektronische Abstimmung in der Mitgliederversammlung

Das neue Gesetz über Verwertungsgesellschaften (VGG) wird aller Voraussicht nach in einem Monat vom Bundestag verabschiedet werden. Es setzt eine zwei Jahre alte EU-Richtlinie in deutsches Recht um, die lobenswerter Weise die Rechte der Mitglieder der Gesellschaften stärkt. Allerdings fragt es sich, ob sich ein Zwang zur Einführung von elektronischen Abstimmungssystemen in den Mitgliederversammlungen nicht als Schuss nach hinten erweist. Noch kann der Bundestag umdenken und den Zwang an das Vorhandensein ausreichend sicherer Systeme koppeln.

Schon seit fünfzehn Jahren bemüht sich die EU-Kommission, den Verbund der europäischen Verwertungsgesellschaften zu mehr Wettbewerb zu zwingen. Auf der einen Seite hat sie dabei den Wettbewerb um Lizenznehmer im Blick – ein Thema vor allem für die musikalischen Gesellschaften –, auf der anderen Seite den Wettbewerb um Rechteinhaber. Beispielsweise sollten, wenn es nach den Kommissionsbeamten geht, deutsche Fotografen nicht automatisch zur Bild-Kunst gehen, sondern auch eine ausländische Verwertungsgesellschaft als Treuhänder für ihre Rechte in Betracht ziehen. Nicht die Nationalität, sondern die Qualität der Dienstleistung sollte idealerweise den Ausschlag geben, welcher Gesellschaft ein Urheber seine Rechte anvertraut.

Als Stolperstein hatten die EU-Parlamentarier vor zwei Jahren die Mitgliederversammlungen identifiziert: denn welcher Urheber räumt schon gerne seine Rechte einer ausländischen Gesellschaft ein und nimmt dann jedes Jahr eine längere Reise in Kauf, um an der dortigen Hauptversammlung teilzunehmen – entsprechende Sprachkenntnisse einmal vorausgesetzt. Als Lösung wurde die elektronische Mitgliederversammlung aus dem Hut gezaubert: wenn man von zu Hause aus abstimmen kann, so der Gedanke, dann fällt der Wechsel zu einer ausländischen Gesellschaft leichter.

Die Pflicht, eine vollständig elektronische Mitgliederversammlung einzuführen, kann man der EU-Richtlinie vom Februar 2014 allerdings nicht entnehmen: nur die Ausübung des Stimmrechts auf elektronischem Wege müssen die Gesellschaften anbieten. Die Richtlinie sagt nichts darüber aus, ob die Gesellschaften ihre Versammlungen simultan im Netz übertragen müssen, ob also eine Live-Verfolgung der Versammlung vom heimischen Bildschirm aus möglich sein soll. Pate stand hier wohl die Praxis einiger französischer Verwertungsgesellschaften, u.a. unserer Schwestergesellschaft ADAGP, eine „elektronische Briefwahl“ anzubieten.

Bei der elektronischen Briefwahl erhalten die Mitglieder die Gelegenheit, sich in einem bestimmten Zeitfenster vor der eigentlichen Mitgliederversammlung in das System der Gesellschaft einzuloggen und dann elektronisch ihr Votum über die zur Abstimmung stehenden Anträge abzugeben. Das System speichert die Antworten in anonymisierter Form. Die Briefwahl-Ergebnisse werden erst nach der Abstimmung in der Mitgliederversammlung verkündet und zum Abstimmungsergebnis im Saal hinzu addiert.

Was auf den ersten Blick einfach und komfortabel erscheint, das offenbart auf den zweiten Blick allerdings gravierende Schwächen: so ordnet § 32 BGB nicht willkürlich an, dass die Angelegenheiten der Vereine durch Beschlussfassung in der Mitgliederversammlung geordnet werden und nicht vor der Mitgliederversammlung. Denn in der Versammlung findet vor der Abstimmung die Debatte statt, die ein wesentliches demokratisches Element der Willensbildung darstellt. In der Debatte werden die Argumente für und gegen einen Antrag ausgetauscht und nicht wenige ändern ihre vorgefasste Meinung nach sorgfältiger Abwägung des Gehörten. Die Teilnehmer an der elektronischen Briefwahl müssen ihre Stimme abgeben, ohne an der Debatte teilnehmen zu können. Auf welcher Grundlage, so fragt man sich, sollen sie denn den Jahresabschluss genehmigen oder andere wichtige Beschlüsse fassen? Nur auf der Grundlage der von der Gesellschaft selbst schriftlich übersandten Materialien?

Ein vielleicht noch gravierenderes Problem sind die Änderungsanträge: wenige in der Tagesordnung einer Verwertungsgesellschaft aufgeführte Anträge werden von den Mitgliedern unverändert beschlossen. Denn die Themen, über die die Versammlung entscheiden muss, sind kompliziert und sie gehen im wahrsten Sinne des Wortes ans Geld. Die Mitgliederversammlung entscheidet jedes Jahr über Anpassungen am Verteilungsplan. Und hier geht wenig ohne Kompromisse. So finden sich für einen Antrag meistens nur dann die erforderlichen Mehrheiten, wenn man ihn abschwächt oder ihn mit einer Kompensation verknüpft. Und wie, fragt sich jetzt, soll man die elektronischen Briefwähler an dieser Kompromissfindung beteiligen? Schließlich haben sie Wochen vor der Versammlung schon über die ursprünglichen Anträge abgestimmt. Entweder man lässt Änderungsanträge nicht mehr zu: dann entwertet man die Mitgliederversammlung und verzögert die Entscheidungsfindung. Denn für die Abstimmung über einen möglichen Kompromiss müsste man eine neue Versammlung einberufen (und hierfür bis zu EUR 100.000,- ausgeben). Oder Änderungsanträge wären nach wie vor statthaft: dann entwertet man die elektronische Briefwahl komplett. Denn es lässt sich stets ein „und“ durch ein „sowie“ ersetzen und damit einen neuen Antrag schaffen, über den dann alleine die im Saal anwesenden Mitglieder und Vertreter entscheiden. Das ist sicherlich nicht im Sinne des Gesetzgebers.

Der Zwang zur Einführung einer elektronischen Briefwahl würde somit viel Mühe und noch viel mehr Probleme mit sich bringen. Gibt es Alternativen? Die Verwertungsgesellschaften könnten ihre Hauptversammlung für ihre Mitglieder zu Hause live übertragen. Kommt es zu einer Wahl oder zu einer Abstimmung, dann könnten die Abwesenden an der Wahl simultan an ihrem Computer teilnehmen. Beispielsweise könnte ein Fenster am Bildschirm aufklappen und man hätte eine Minute Zeit, mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ zu stimmen. Dieses System würde die Probleme der elektronischen Briefwahl lösen, allein Wortbeiträge wären den Abwesenden verwehrt, denn diese Möglichkeit würde die Versammlung sprengen.

Allerdings handelt man sich mit der Einführung eines Systems der elektronischen Simultan-Abstimmung andere Probleme ein, die vor allem in der Technik begründet sind. Denn wie stellt man sicher, dass die elektronische Abstimmung nicht manipuliert oder gefälscht werden kann? Spätestens wenn es um die Parlamentswahlen geht, hat das Bundesverfassungsgericht hohe Hürden aufgerichtet: in einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 wird festgestellt:

„Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssen die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können.“

Wenn man auch die Abstimmungen in einem Verein nicht mit einer Bundestagswahl vergleichen kann, so gilt auch im Verein der Grundsatz, dass die Mitglieder Vertrauen in das Abstimmungssystem haben sollten. Denn ansonsten würden die Unterlegenen einer Abstimmung ständig Zweifel an der Richtigkeit des Abstimmungsergebnisses haben.

Die Bild-Kunst prüft derzeit, ob auf dem Markt bereits technische Systeme angeboten werden, die eine hinreichende Sicherheit gewähren. Denn immerhin ist seit der Bundestagswahl 2005, über die das Bundesverfassungsgericht hat entscheiden müssen, eine digitale Ewigkeit vergangen.

Das Ganze geschieht unter Zeitdruck: nach den Vorschriften des Regierungsentwurfs zum VGG müssen die Verwertungsgesellschaften spätestens 2017 für ihre Mitgliederversammlungen die Möglichkeit der elektronischen Abstimmung anbieten. Wenn der Gesetzgeber nicht noch nachbessert, dann wird den deutschen Verwertungsgesellschaften die Wahl zwischen Skylla und Charybdis aufgedrängt, zwischen elektronischer Briefwahl oder elektronischer Simultanwahl.